Der Klingbrunnen beim Seebacher Forsthaus
am Hainichrande

von Wilhelm Kramer, Cammerforst

Ob wir auf der Höhe des Rieseninger Berges stehen oder sonst durch die weite Ebene wandern, fast überall grüßt uns vom Saume des Hainichs das Seebacher Forsthaus. Mit seiner ganz in Weiß gehaltenen Vorderfront leuchtet es weit in die Gegend hinein, als wollte es den Wanderer anlocken; aber die Wenigsten folgen diesem Rufe.

Wohl wandern viele am Saume des Hainichs entlang nach dem Ihlefeld, aber am Seebacher Forsthaus gehen die achtlos vorüber. Höchstens, dass der eine oder andere einen Blick auf die von Berlebsch’schen Vogelschutzanlagen wirft. Nur die Wenigsten ahnen, dass das Forsthaus selbst eine der bemerkenswertesten naturhistorischen Erscheinungen birgt, wohl wert, der Vergessenheit entrissen zu werden, den Klingbrunnen. Weniges nur ist es, was wir von ihm wissen. Keine Urkunde erzählt uns etwas von der Entstehung dieses gewiss sehr alten Brunnens. Keine Sage von ihm lebt im Munde des Volkes. Und desto geheimnisvoller wird er.

Hören wir, was uns Karl Rümpler, Kantor zu Cammerforst von 1826 bis 1860, in „Thüringen und der Harz“ 1840 von ihm zu erzählen weiß: „ Der Klingbrunnen ist mit einer viereckigen Blochstürze von 40 Fuß im Umfang umgeben. Tausendjährige Eichen neigen ihre Laubkränze auf ihn herab, und wie graue Märlein der Vorzeit flüstert’s und webt es über geheimnisvollen dunsten Tiefen. Der gewaltige Brunnen ist bis zu einer Tiefe von 24 Fuß (7m) gemauert, und die Basis dieser Mauer bildet harter Kalksteinfelsen, der sich nach der Tiefe zu immer mehr und mehr verengt, weiter unten sich aber wieder zu erweitern und einen ungeheureren Kessel zu bilden scheint. dieses bemerkt der Beschauer, wenn er ein Bündel Stroh anzündet und in die schwarze Nacht des Brunnens hinabschleudert. Dieser Versuch gewährt ein über alle Erwartungen furchtbar schönes Schauspiel. wie ein vom Nachthimmel sich herabsausendes feuriges Meteor fährt das brennende Stroh sausend und pfeifend hinab, und aus unergründlicher Tiefe blitzt dann das silberne Wasser herauf; zugleich schlägt ein dumpfes Murmeln und Grollen, wie ein fernes Gewitter, an das lauschende Ohr, oft von einem Schalle unterbrochen, der einem aus der Ferne zu uns herübertönenden Rottenfeuer nicht unähnlich ist. Endlich schwimmt das Strohbund verglimmend auf dem Wasser, aber das seltsame Brausen und Knackern dauert wohl noch gegen fünf Minuten lang fort.

Ein hinab geworfener Stein braucht über eine Minute Zeit, ehe er den Wasserspiegel erreicht; ehe die geschieht, vernimmt man einen ungeheuren Knall, wie von einer 24-pfündigen Kanone; der Knall wiederholt sich, wenig schwächer, in Zeiträumen von 3-4 Sekunden acht bis zehn mal, worauf er immer dumpfer und dumpfer wird. Endlich scheint es ruhig in der Tiefe, da kehrt der Knall plötzlich noch einmal mit seiner frühren Stärke zurück, und dann hört man ein Geräusch, das dem Rauschen eines fernen Waldbaches gleicht.

Sei es nun, dass die hinab geworfenen Gegenstände vielleicht an hervorragenden Felsenzacken, wovon freilich das Auge nichts wahrzunehmen vermag, anprallen und dadurch, indem sie wie von einer Stufe zur anderen springen, diese seltsame Musik hervorgerufen wird; sei es, dass andere bisher unerforschte Ursachen dabei zu Grunde liegen; stets bringt das in so verschiedenen Abwechslungen und Tonarten heraufquellende Geräusch ein sonderbares Gemisch von Grauen und Wohlgefallen hervor, dass man sich, wenn die ersten donnernden Schläge erschallen, krampfhaft an dem sichernden Geländer festhält, und dann, wenn es wie ferne vom Wind verwehte Nachtmusik erklingt, ruhiger und lauschend sich in die bodenlose Tiefe hinabbeugt. Sonderbar ist es, dass man die Tiefe des Brunnens zu verschiedenen Zeiten verschieden gemessen hat; denn bald gab das Senkblei 186, bald 156, bald 210 Fuß an.

Der derzeitige Förster, dessen Vater vor ihm das Forsthaus schon 30 Jahre bewohnt hat, behauptet das in einem Zeitraum von ca. 40 Jahren wenigstens 25 Fuder Steine, 1000 Eichenblöcke, 50 Schock Strauchholz und 40 -50 Klafter Wurzelstöcke in den Brunnen geworfen wurde, dessen ungeachtet man noch nie eine stabile Abnahme der Tiefe verspürt. Sollten diese Füllstoffe vielleicht durch unterirdische Kanäle abgeführt werden? – Schwerlich! In diesem Fall würden sie an irgend einem anderen Orte zum Vorschein kommen müssen. Niemand aber weiß sich dessen zu erinnern.

Die unterste Tiefe des Brunnen scheint mit mehreren zeitweiligen Quellen der Umgebung in Verbindung zu stehen. Einen Beweis davon liefert die in der Nähe des Dorfes Nazza hinter dem Hainich befindliche Quelle. Wenn diese versiegt, dann hält der Besitzer der bei Cammerforst liegenden oft seiernden Mühle sein Ohr lauschend über den Klingbrunnen. Rauscht es darin und plätschert es, als fielen viele schwere Regentropfen auf das grüne Laubdach der Bäume, sieht ferner der Müller das Wasser des Brunnen durch die Nacht blinken: dann eilt er freudig heim, denn in einer Zeit von einer halben Stunde schon füllt sich dann die zwischen der Gelberieder Mühle und dem Brunnen liegende Quelle des Mühlbaches, und bald kann das Rasttag haltende Mühlwerk beschäftigen.

Dem Wanderer eröffnet sich vom Klingbrunnen aus eine reiche, wunderliebliche Aussicht. Man blickt in einen flachen Kessel, dessen Westrand in sanften Erhebungen der Hainich bildet. Nördlich begrenzt den Gesichtskreis das Eichsfeld, an welches sich die kleinen bewaldeten schwarzburgischen Hügelketten schließen. Im Osten erheben sich in dämmernder Ferne die der Schmücke und Finne anliegenden Hügel, und die Südseite des Kessels schließt die Thüringer Berge ein. Fragt der Leser nach der Zeit der Anlegung des Klingbrunnens und nach der Veranlassung dazu, so kann ich leider keine Auskunft geben, da nicht eine einzige Urkunde sich darüber ausspricht, ja, nicht einmal eine Sage im Volksmunde davon erklingt.

Das der Brunnen alt, sehr alt ist, scheint dadurch begründet zu werden, dass auch die bejahrtesten Männer der Umgebung sich nicht erinnern, jemals nur ein Wort über die Anlegung des selben von ihren Großeltern gehört zu haben; was aber die Veranlassung dazu gegeben haben mag, am Saum des Waldes einen Brunnen mit einem unverhältnismäßigen Aufwand von Zeit, Mühe und Kraft anzulegen, bleibt um so mehr ein Rätsel, wenn man bedenkt, dass der Brunnen wegen seiner gewaltigen Tiefe nicht genutzt werden kann und, seit Menschen denken können, nicht benutzt worden ist. Des Forsthauses wegen kann die Anlegung auf keinen Fall geschehen sein, da die Erbauung des selben der neueren Zeit angehört, und es entsteht daher die Vermutung, dass der Brunnen zu dem, 1000 Schritte nach der Ebene zu gelegenen Kloster „Gelberied“, welches der Sage nach, der jedoch jede historische Unterlage fehlt, Hussitenkriege 1428 durch Brocopius zerstört worden sein soll, gehört, und das der Wasserstand des Brunnens höher gewesen, aber durch Vulkanische Einflüsse späterhin sich gesenkt hat.“
Soweit Karl Rümpler —

Dem aufmerksamen Leser wird es nicht entgangen sein, dass sich in Rümplers Aufsatz ein Widerspruch findet. Es heißt an der einen Stelle, dass die Falldauer eines Steines über 1 Minute beträgt, andernfalls aber haben die Lotungen nur 186, 156 und 210 Fuß ergeben. Der Fuß mit 30 cm gerechnet, ergibt eine Tiefe von 60 – 65 Metern. Der Stein würde demnach in der Sekunde nur wenig über 1 m fallen. Da nun die Beobachtungen von Rümpler selbst, die Lotungen aber von anderen gemacht wurden sind, und mir von älteren Leuten, die den Brunnen noch aus eigener Erfahrung kennen, wiederholt versichert wurde, dass die Falldauer von 1 Minute stimme, so spricht gerade dieser Widerspruche für die Rümpler’sche Vermutung, das vorspringende Felsenzacken in den Brunnenschacht hineinragen, auf den mutmaßlich das Senkblei aufgesessen hat. Wie könnte man sich sonst diesen Widerspruch erklären.

Der Volksmund weiß zu erzählen, dass in den Brunnen geworfene Gegenstände im Bechstedter Felde, unten bei Seebach, ja sogar bei Tennstedt wieder zum Vorschein gekommen sind. Diese Erzählungen scheinen erst der jüngeren Zeit anzugehören, denn Rümpler weiß darüber noch nichts zu berichten. Da bei dem letzten Umbau des Forsthauses das ganze alte Bauholz in den Brunnen geworfen wurden ist, und dieses sich ziemlich weit oben kreuz und quer in dem Schacht festgesetzt hat, im Laufe der Jahre dann durch hinein gefallenes und geworfenes Laub, Holz, Steine auf diesem eine neue Schicht bildeten, sodass die hinein fließenden Abwässer keinen freien Abzug hatten, so drang im Sommer ein ziemlich starken Gestank aus dem Brunnen. Auch waren dem Förster des Öfteren junge Kücken und sonstiges Kleinvieh hineingefallen. Um diesen Übelständen Abzuhelfen, ließ der damalige Förster Metz (jetzt auf der Thiemsburg) 1913 eine Zementdecke über den Brunnen gießen, und setzte damit, wenn auch ungewollter Weise, allen weiteren Beobachtungen ein Ziel.

Doch die Geschichte geht weiter:
Im Jahr 2003 entdeckte nun die Gastwirtsfamilie Rettelbusch aus Kammerforst, die im Jahr 2002 das Forsthaus käuflich erworben hatte,auf Hinweis der Bevölkerung den uralten und sagenumwobenen Klingbrunnen wieder. Unter einem Meter Erde, einen Hufeisen und einem riesigen Stein versteckt entdeckte man nach kurzer intensiver Suche nahe beim Forsthaus ein 30 x 30 cm großes Loch in der soeben beschriebenen Zementdecke aus dem Jahr 1913. Darunter kam ein Brunnen von 2 Metern Durchmesser und 9 Metern Tiefe zum Vorschein. Im Jahr 2006 machte sich Gastwirt Andreas Rettelbusch daran den Brunnen mit eigener Hand weiter auszuschachten immer in der Hoffnung, dass der Brunnen vielleicht nicht bis in die Tiefe vollgefüllt ist. Per Hand schachtet Andreas Rettelbusch 17 Meter tief – also bis auf 26 Meter Tiefe. In dieser Tiefe musste die Arbeit vorerst aufgegeben werden, das sich hier eine Tonschicht befand, die mit Handschachtung unmöglich zu bezwingen war. Eine herbei gerufenen Brunnenbaufirma schachete ein Loch mit 40 cm Durchmesser und stellte fest, dass der Brunnen noch mindestens bis auf 56 Meter Tiefe vollgefüllt war. Diese „kleine“ Loch fiel leider wieder in sich zusammen, sodass man aber in der vorläufigen Tiefe 2 Meter gewann und so in den nächsten Jahren auf immerhin stolze 28 Meter Tiefe blicken konnte und viele Generationen von Gäste des bald entstandenen Waldgasthof „Hainich Haus“ wagten einen Blick in die Tiefe und lasen gespannt die sagenumwobene Geschichte.

Doch die Gastwirtsfamilie möchte den Brunnen wieder zum Klingen bringen und sucht über 4 Jahre nach einer Möglichkeit die Ausschachtung des Brunnens doch noch zu Vollenden. Im September 2010 gelingt es eine Firma ausfindig zu machen, die die Möglichkeit besitzt dies zu schaffen.

So beginnen die Arbeiten am Brunnen mit der Bohrtechnik der Brunnenbaufirma „Schachtbau Nordhausen“ und zeigen große Erfolge. Insgesamt 6 Wochen werden benötigt, bis der Brunnen seine ursprüngliche Tiefe von nun nachweislich 65 Metern wieder hat. Fast 100 Jahre nach seinem Verschluss ist der Klingbrunnen am Seebacher Forsthaus am 20.10.2010 wieder komplett freigelegt. Und die sagenumwobenen Geschichte des Karl Rümpler übertreibt nicht, denn auch der sonderbare Klang der dem Klingbrunnen seinen Namen gab, konnte zurückgeholt werden.

Hören Sie selbst einen Stein 1 Minute lang fallen – bei einem Besuch im Waldgasthof „Hainich Haus“!